Wer oder was ist “Erika Lust”? Warum ist es wichtig, auch – oder vor allem – bei Pornografie darauf zu achten, was wir schauen? Und wie lässt sich Fetisch von Vorliebe trennen? All das liest du in unserem spannenden Interview mit der Gründerin der Plattform “Erika Lust” zum Thema feministische Pornografie
Einen Porno im Kino anschauen?! War eine Erfahrung! Das kann ich euch sagen! Aber fangen wir von vorne an: Im April kam eine sehr interessante Mail in unsere Inbox geflattert. Und zwar eine Einladung von “Erika Lust” zur Premiere ihrer bisher größten feministischen Pornofilm-Produktion „the Wedding“.
“Erika Lust” ist eine Plattform für ethisch produzierte feministische Erwachsenen-Unterhaltung. Die Gründerin Erika Lust hat sich einen Namen gemacht, indem sie innovative und ästhetisch ansprechende Erotikfilme schafft, die sich von den gängigen Stereotypen und Klischees der Mainstream-Pornografie abheben. Ihre Filme zeichnen sich durch eine positive Darstellung von Sexualität, Gleichberechtigung, Konsens und Vielfalt aus. Sie legt großen Wert auf die Einbeziehung der weiblichen Perspektive und strebt danach, eine realistischere und authentischere Darstellung von Intimität und Lust zu bieten. Durch ihre Arbeit hat Erika Lust dazu beigetragen, das Konzept des feministischen Pornos zu popularisieren und den Fokus auf die sexuelle Befriedigung und Freude aller Beteiligten zu lenken.
Filmpremiere: “The Wedding” – von Erika Lust
Ende April ging es also dann ab nach Barcelona zum Besuch des Headquarters der ethischen Pornoproduktionsfirma und anschließenden Kinopremiere von „The Wedding“. Die erotische Liebeskomödie ist der bisher aufwendigster und teuerster Spielfilm der Plattform. Der Film vereint 134 Personen aus 16 verschiedenen Nationalitäten als Darsteller:innen und Crewmitgliedern. Mit 108 Beteiligten am Set, 5 Sexszenen und einem jazzigen Soundtrack von Jose R. Madrid behandelt „The Wedding“ aus einer hauptsächlich weiblichen Perspektive Themen wie Pansexualität, ethische Nicht-Monogamie und die damit verbundenen Stigmata. Die ausverkaufte Vorführung zog rund 500 Besucher:innen aus aller Welt an, die glamourös gekleidet die Arbeit der Film-Produktion feierten – wie bei „normalen“ Kinopremieren eben auch. Es war wirklich eine spannende Erfahrung und Inspiration auch mal Neues zu probieren und Pornografie aus einer anderen weniger dunklen und schmuddligen Perspektive offen positiv zu betrachten und alle Beteiligten und deren Arbeit gebührend zu zelebrieren!
“Der Film ist großartig – die Szenen wirkten authentisch, und die Handlung war so süß. Einen Porno im Kino zu sehen, war eine seltene und einzigartige Erfahrung.”
Stoya – Besucherin der Premiere und namenhafte Vertreterin der Branche
Bei der Gelegenheit haben wir auch gleich ein paar Worte mit Gründerin Erika Lust selbst gewechselt und sie über ihre Arbeit ausgefragt! Das spannende Interview liest du hier:
the Curvy Magazine: Wie sind Sie zur Erotikfilmindustrie gekommen und was hat Sie dazu motiviert, Filme mit einem feministischen Ansatz zu produzieren?
Erika Lust: Während meines Studiums der Politikwissenschaften und Gender Studies an der Lund University in Schweden stieß ich auf das Buch von Linda Williams mit dem Titel „Hard Core: Power, Pleasure, and ‘The Frenzy of the Visible’“. In diesem argumentiert sie, dass Pornografie eine Möglichkeit ist, bestimmte Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität zu vermitteln, jedoch keine Wahrheit über Sex widerspiegelt. Nach meinem Studium zog ich im Jahr 2000 nach Barcelona und begann, Filmkurse zu belegen. Als ich die Aufgabe erhielt, meinen eigenen Kurzfilm zu erstellen, ergriff ich die Gelegenheit und wagte es, einen expliziten Film zu drehen! Allerdings wollte ich ihm innerhalb des Pornogenres eine andere Perspektive geben. So entstand mein Kurzfilm mit dem Titel „The Good Girl“, eine humorvolle Interpretation des klassischen Szenarios mit dem Pizza-Lieferanten im Pornofilm. Ich stellte ihn zum kostenlosen Download zur Verfügung. Das Nächste, was ich wusste, war, dass er in weniger als zwei Monaten über zwei Millionen Mal heruntergeladen wurde! Ich erhielt E-Mails von Menschen auf der ganzen Welt, die mir mitteilten, dass sie den Film liebten und wissen wollten, wann der nächste herauskommen würde. Daraufhin erkannte ich, dass andere Menschen nach Alternativen zu den Online-Pornos suchten, an die sie gewöhnt waren. Also beschloss ich, weiterhin Erwachsenenfilme zu produzieren, die meinen Vorlieben und Werten in Bezug auf Sex und Geschlecht entsprechen… und so entstand “Erika Lust”!
Im Werbe-Slogan heißt es, „Erika Lust – Reinventing porn“: Wie setzen Sie dieses Vorhaben in Ihrer eigenen Arbeit um? Und wie wichtig ist es, ethische Produktionsstandards in der Erotikfilm-Industrie zu fördern?
Die Botschaften, die wir durch jede Art von Medien erhalten, werden beeinflusst von denjenigen, die sie produzieren, und von der Art und Weise, wie sie hergestellt werden. Zum Beispiel wird lesbischer Porno hauptsächlich für ein männliches Publikum auf kostenlosen Online-Porno-Websites produziert. Als Ergebnis werden Lesben darin keine Relevanz finden; es ist vielmehr darauf ausgelegt, eine andere Art von Publikum zu befriedigen. Die Neugestaltung dessen, was wir über Pornografie wissen, bedeutet nicht nur, „Diversität zu wollen“, sondern es geht auch darum, dass Filmemacher:innen, Produzent:innen und Darsteller:innen aus der weiblichen oder LGBTQ+-Gemeinschaft wichtige Rollen in den Produktionen spielen. Es geht darum, vorherrschende patriarchale Erzählungen in Frage zu stellen. Es beinhaltet die Herausforderung der Konventionen gängiger Darstellungen von Sexualität, was wir bei “Erika Lust” zusammen mit einer kinematographischen Ästhetik versuchen.
Inwiefern unterscheidet sich feministische Pornografie von Erika Lust von herkömmlicher Male-Gaze Mainstream-Pornografie und welche Veränderungen oder Neuerungen bringt sie mit sich?
Feministischer Porno entstand ursprünglich als Möglichkeit, ein Genre zurückzuerobern, das traditionell ausschließlich als Domäne von Männern angesehen wurde, und um eine andere Perspektive darauf zu bringen, wie wir Sexualität darstellen. Er feiert das Vergnügen und die sexuelle Ermächtigung von Frauen, LGBTQ+ Personen und BIPOC-Menschen. Das bedeutet jedoch nicht, dass feministischer Porno nur „Porno für Frauen“ ist. Personen aller Geschlechter werden im feministischen Porno als gleichberechtigte sexuelle Mitwirkende behandelt. Sie besitzen ihr Vergnügen und werden nicht als Objekte oder Sexmaschinen portraitiert. Das Hauptziel von mit feministischem Ansatz produzierten Pornos besteht darin, menschliche Sexualität auf gleiche und authentische Weise darzustellen, ohne dabei auf Geschlechterstereotype zurückzugreifen.
Wie kann feministische Pornograpie dazu beitragen, bestehende Geschlechterstereotype und Ungleichheiten in der Gesellschaft und im Bereich der Sexualität zu hinterfragen und aufzubrechen?
Feministische Pornografie kann ein großartiges Werkzeug für Selbsterforschung sein. Jeder sollte in der Lage sein, Pornografie zu erkunden, die widerspiegelt, wer man ist und was einen erregt. Niemand sollte sich durch konsumierte Pornos ausgeschlossen oder unterrepräsentiert fühlen. Wenn wir uns der Vielfalt bewusst sind, die es in Bezug auf Pornografie gibt, können wir bewusste Entscheidungen treffen, was wir konsumieren möchten, um das zu finden, was sexuell mit uns in Resonanz steht, wo wir uns selbst repräsentiert sehen und wie wir unseren Körper und unser Vergnügen leben und feiern können. Wir benötigen Pornografie, die alle Menschen korrekt repräsentiert.
Welche Auswirkungen haben Pornos auf das Selbstbild und das sexuelle Selbstbewusstsein derjenigen, die sie konsumieren, und wie können sie eine positive Veränderung in der persönlichen Sexualität bewirken?
Pornografie kann verwendet werden, um menschliche sexuelle Dynamiken und Beziehungen auf eine Weise zu erkunden, die anderen Medien nicht möglich ist. In einer Gesellschaft, in der Sex selbst immer noch sehr tabuisiert ist, ist sie zu einer zunehmend wichtigen Informationsquelle in Bezug auf Sexualität geworden. Pornografie kann ein entscheidendes Werkzeug sein, um Sexualität auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene zu befreien, soziale Konstrukte in Bezug auf Geschlecht, Körpererwartungen und Dynamiken zu entwaffnen sowie langjährige Barrieren zu überwinden, die uns aufgrund von Scham oder Unterdrückung daran gehindert haben, unsere sexuelle Identität zu erforschen. Pornografie kann Menschen aller Geschlechter dabei helfen, mehr über sich selbst herauszufinden und ihre eigenen sexuellen Vorlieben besser zu verstehen, was letztendlich zu erfüllenderen sexuellen Erfahrungen führen kann.
Welche Rolle spielt die Darstellung von Konsens, Gleichberechtigung und Respekt in feministischen Pornos und wie setzen Sie diese Werte in Ihrer eigenen Arbeit um?
Unser wichtigster ethischer Wert besteht darin, sicherzustellen, dass sich alle Personen während des gesamten Prozesses sicher und wohl fühlen. Es finden den ganzen Tag über Gespräche statt, auch vor den Dreharbeiten. Mithilfe unseres Intimacy Coordinators erkunden wir von Anfang an Einverständnis und Grenzen. Der Intimacy Coordinator stellt sicher, dass Darsteller:innen sich sicher fühlen, ihre Sexualität allein oder miteinander zu erkunden, und ihnen bei Bedarf mentale und sexuelle Gesundheitsunterstützung bietet. Der Intimacy Coordinator arbeitet eng mit den Regisseur:innen zusammen und leitet die Sexszenen sowie Gespräche über sexuelle Intimität, Grenzen, sexuelle Gesundheit, Schutzmaßnahmen usw. In diesem Sinne besprechen wir, was sie bereit sind, zu tun und was nicht in Ordnung ist, wobei Raum für Nuancen bleibt, die sich ergeben können. Wenn wir am Set sind, überprüfen wir erneut mit den Darsteller:innen, ob sich seit unserem letzten Gespräch etwas geändert hat. Es gibt auch einen Plan, wenn wir weitere Unterstützung benötigen oder wenn sich jemand aus irgendeinem Grund plötzlich unwohl fühlt. Wie bereits erwähnt, haben wir auch das Bestreben, das Vergnügen für alle zu feiern, so dass sich alle Identitäten in dem von ihnen konsumierten Porno repräsentiert fühlen und sich damit identifizieren können.
Warum hat jeder andere Lustpunkte? Das liest du hier.
Gibt es ein bestimmtes Projekt oder einen bestimmten Film, auf den Sie besonders stolz sind, und wenn ja, warum?
Es gibt so viele! Aber das größte Projekt, das ich je gemacht habe, ist „The Wedding“, eine unserer neuesten Veröffentlichungen, die auf Lust Cinema erhältlich ist. Es war unsere bisher größte Produktion und es war eine große Herausforderung, sie zu drehen! Ich bin auch wirklich stolz auf die Arbeit unserer Gastregisseur:innen, die ihre Vision und Ideen einbringen und unseren Plattformen so viel Reichtum verleihen. Ein kürzlich erschienener Film, der auf XConfessions verfügbar ist und für den wir eine Premiere in Barcelona hatten, ist „Catboy“. Er repräsentiert die Ballroom-Szene und feiert die Freude der BIPOC-Queers, ist aber auch eine Reflexion über die Gewalt, mit der diese Personen täglich konfrontiert sind, insbesondere im Zusammenhang mit der Dating-Szene.
Welche Maßnahmen können Porno-Produzent:innen ergreifen, um sicherzustellen, dass Darstellungen dicker Körper nicht ausschließlich auf Fetischisierung basieren, sondern stattdessen Vielfalt und Authentizität zeigen?
„Representation matters“ und es ist unglaublich wichtig, die Ansichten zu Beauty-Standards, mit denen wir alle aufgewachsen sind, zu dekonstruieren. Für mich ist die wichtigste Maßnahme, eine klare und gleichberechtigte Darstellung des Vergnügens aller Körper auf der Leinwand zu haben. Dadurch senden wir die Botschaft aus, dass alle Körper Vergnügen verdienen, alle Körper begehrenswert sind und allein durch ihre Existenz gefeiert werden sollten. Wir alle haben unterschiedliche Merkmale und Identitäten, und es ist wichtig, dass all diese anerkannt und gefeiert werden. Sex und Sexualität können Dynamiken haben, die bestimmten Werten unserer Gesellschaft entsprechen, und es ist wichtig, dass wir versuchen, diese zu durchbrechen und eine angemessene Repräsentation zu schaffen, die alle respektiert und ehrt.
Welche Unterschiede haben sie festgestellt zwischen der Repräsentation weiblicher und männlicher dicker Körper?
Angesichts der patriarchalen Strukturen, in denen wir alle leben, sehen wir eine klare Unterscheidung in der Art und Weise, wie männliche und weibliche Körper in allen Medien repräsentiert werden. Es gibt eine deutliche Fokussierung und Erwartungshaltung gegenüber weiblichen Körpern, die nicht immer bei männlichen Körpern der Fall ist. Wir brauchen mehr Pornografie, die Bilder von unvollkommenen Körpern zeigt, mit denen sich die Zuschauer identifizieren können. Dies wird uns helfen, über Geschlechtsnormen und Erwartungen in Bezug auf größere weibliche Körper hinwegzukommen und die Botschaft zu senden, dass diese Körper genauso begehrenswert sind wie andere.
Kann man Fetisch und Vorlieben trennen? Wo ist die Grenze?
Ich denke, es gibt einen Ansatz, um Fetisch zu betrachten, der nicht darauf abzielt, jemanden ausschließlich aufgrund seiner körperlichen Merkmale auf den Zweck des Geschlechtsverkehrs zu reduzieren. Fetisch kann sich auf die Art und Weise beziehen, wie wir berührt werden möchten, auf Gegenstände, Dynamiken oder Kleidung, die wir in unserer Intimität verwenden möchten – und all das ist, unabhängig von Alter, Fähigkeiten, Hautfarbe, Sexualität, Identität oder Körpergröße einer Person, irrelevant. Es ist wichtig, Pornografie zu haben, die die menschliche Sexualität als eine oder mehrere Personen zeigt, die eine angenehme Erfahrung teilen, die Fetisch- oder Kink-Praktiken beinhalten kann oder auch nicht (was unser sexuelles Leben so bereichern kann!), aber den Fokus nicht darauf legt, wie sie sich der Welt präsentieren.
Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Darstellung von Erotik und Sexualität in den Medien und wie können diese überwunden werden?
Ich spüre eine deutliche allgemeine Ablehnung gegenüber dem Fakt, dass Pornografie sowohl positiv als auch negativ genutzt werden kann. Alles hängt von der Perspektive ab, mit der die Filme gemacht werden. Ich glaube nicht, dass es die Verantwortung von Pornografie ist, zu erziehen. Aber sie kann die Kraft haben, eine freudvolle Einstellung zu Sex und Beziehungen zu inspirieren, wenn wir bereit sind, sie in der von uns erstellten und ausgewählten Pornografie einzubringen. Pornografie kann ein fantastisches Werkzeug zur Selbstentdeckung und Selbsterforschung sein, sowohl alleine als auch mit einem Partner:in. Pornografie hat die Kraft, zu befreien! Sie muss kein negativer Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Wir können Pornografie schauen, in der sich Menschen in den Filmen wiedererkennen, ihren eigenen Sex sehen und uns von anderen Arten des Geschlechtsverkehrs inspirieren lassen. Es besteht kein Bedarf, einer einzigen Version von Pornografie ausgesetzt zu sein. Eine Sache, die ich gerne mehr sehen würde und die wir uns zur Mission gemacht haben, ist, Pornografie als inspirierende Quelle künstlerischer Kreativität wieder in die Kinos zu bringen, so wie wir es in den späten 70ern und 80ern erlebt haben!
Wie sehen Sie die Zukunft der Erotikfilmindustrie? Welche Veränderungen oder Entwicklungen erwarten Sie in den kommenden Jahren?
Um Pornografie zu entstigmatisieren und damit unabhängige Erwachsenenfilmmacher weiterhin Pornos machen, die künstlerisch, filmisch und bejahend sind, müssen wir alle darüber nachdenken, dass Pornografie nicht von Natur aus schädlich oder mit Gewalt und Misogynie belastet ist. Wir leben in einer Gesellschaft, die gewalttätige Männlichkeit, Diskriminierung von Frauen und geschlechtsnonkonformen Menschen, Rassismus, Ableismus, Fettfeindlichkeit und so weiter normalisiert. Pornografie ist ein direkter Spiegel der Welt, in der wir leben. Daher sollten wir aufhören, alles der Pornografie anzulasten, und stattdessen die eigentlichen Probleme angehen. Wir Menschen sind sexuelle Wesen, und irgendwann in unserem Leben werden wir sexuellen Inhalten begegnen. Sollten wir das nicht auf informierte, sichere und sozial verantwortungsbewusste Weise tun? Wenn dies der Fall ist, kann Pornografie viel zu unserem individuellen und/oder gemeinsamen Sexualleben beitragen!
Danke liebe Erika Lust für das tolle Interview, die interessante Erfahrung und den wichtigen Input!