Diskriminierung beim Arztbesuch und was wir dagegen tun können
Wenn man als kurvige Frau zum Arzt geht, wird man oft mit verletzenden Kommentaren konfrontiert und hat das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Wir haben mit Julia Kremer, Model und Aktivistin, und Dr. Antonie Post, Ernährungswissenschaftlerin und Aktivistin, über ihre persönlichen Erfahrungen und darüber gesprochen, wie man einen Weg findet, mit Diskriminierung beim Arztbesuch umzugehen.
“Mehrgewicht wird oft als Ursache betrachtet, obwohl es häufig ein Symptom ist”
In unserer Gesellschaft ist es leider normal, dass der weibliche Körper immer wieder kommentiert wird. Gerade kurvige Frauen werden auf ihren Körper reduziert. Oft fehlt sogar beim Arztbesuch ein safe space, obwohl sich Ärzt*innen eigentlich auf eine neutrale Beurteilung von Gesundheit und des menschlichen Körpers spezialisiert haben. „Mehrgewicht wird oft als Ursache betrachtet, obwohl es häufig ein Symptom ist. Anstatt dass der Ursache auf den Grund gegangen wird, heißt es: ,Mach mehr Sport, iss weniger. Wie wäre es mit einer OP?‘. Das kann doch nicht die einzige Lösung sein. Oder? Das finde ich sehr frustrierend und es gibt mir wenig Hoffnung, dass ich ernst genommen werde und mir geholfen wird“, erzählt Julia Kremer.
Dass Menschen andere aufgrund ihres Aussehens, ihrer Fassade, beurteilen, gehört leider zu unserer Gesellschaft. Dabei steckt hinter jedem Menschen eine Geschichte. Vorurteile und Klischees lassen uns die Individualität von anderen vergessen und auch unsere Empathie. „Respekt sollte jeder Mensch bekommen. Aber in unserer Gesellschaft wird Körpergewicht als Verschulden angesehen. Was nicht stimmt, weil es über hundert Faktoren gibt, die das Gewicht beeinflussen und die sich gegenseitig bedingen. Es heißt immer ‚Dick sein ist nicht gesund‘, aber es gibt nun einmal keine Diät, die einen sicheren und nachhaltigen Gewichtsverlust garantiert“, erklärt Dr. Antonie Post. „Es gibt psychologische Faktoren, warum ein Körper mehrgewichtig ist. Sexualisierte Gewalt, ein Trauma – es gibt auf so vielen Ebenen so viele Gründe. Das alles unter einem Begriff, Adipositas, (der auf Basis des BMIs beruht) zu sammeln, finde ich fragwürdig“, verdeutlicht Julia Kremer.
Dass Menschen aufgrund von belastenden Erfahrungen zunehmen und dann wiederum Diskriminierung aufgrund ihres Gewichts erfahren, ist ein Teufelskreis, der viel Stärke von Betroffenen abverlangt. Aber woher kommen eigentlich die Vorurteile, die zu struktureller Diskriminierung von mehrgewichtigen Menschen führen? „Wirft man exemplarisch mal einen Blick in die Medienlandschaft, wird einem schnell klar, wieso das Bild von Menschen mit mehr Gewicht so einseitig geprägt ist. Es gibt kaum mehrgewichtige Charaktere und wenn, dann geht es oft um ihre Leidensgeschichte oder sie treten als Lacher auf. So können andere Menschen keinen Zugang zu dem Thema finden“, erklärt Julia Kremer. In unserer Gesellschaft werden ein Stereotyp und eine Norm vermittelt – entspricht man diesen nicht, hat man im System oft keinen Platz.
“Wenn eine schlanke Person krank ist, wird sie bemitleidet. Wenn eine dicke Person dieselbe Krankheit hat, wird ihr die Schuld gegeben.”
Dies lässt sich auch bei Arztbesuchen beobachten. „Mir ist schon öfter aufgefallen, dass Unterschiede gemacht werden: Wenn eine schlanke Person krank ist, wird sie bemitleidet. Wenn eine dicke Person dieselbe Krankheit hat, wird ihr die Schuld gegeben. Es gibt auch Ärzt*innen, die dicke Patient*innen nicht untersuchen wollen, weil es ihnen unangenehm und peinlich ist. Dazu gibt es sogar mehrere Studien. Mehrgewichtige Menschen stehen auch unter Generalverdacht, Diabetes zu haben. Die Ärzt*innen fragen teilweise überhaupt nicht nach den individuellen Essgewohnheiten, sondern vermuten nur aufgrund ihrer Vorurteile. Ärzt*innen überschreiten ihre eigenen Kompetenzen, wenn sie Ernährungsempfehlungen geben, weil die meisten dafür nicht ausgebildet werden“, fasst Dr. Antonie die Problematik zusammen.
Die in unserer Gesellschaft tief verankerten Denkmuster, auf denen Vorurteile basieren, lassen sich leider nicht
über Nacht ändern. Allerdings gibt es Möglichkeiten, die dabei helfen, einen Arztbesuch weniger belastend zu gestalten. „Zum Beispiel kann man den Arzt darauf hinweisen, dass er doch eigentlich weiß, dass das Gewicht von unzähligen Faktoren abhängt. Man kann auch fragen, wie der Arzt einen behandeln würde, wenn man schlank wäre. Offen ansprechen, dass man beispielsweise eine Essstörung hat oder hatte und von dem Thema Gewicht getriggert wird, ist oft eine gute Lösung. Oder man sagt einfach, dass das Thema Gewicht sehr belastend ist. Es würde sicher keine Ärzt*in widersprechen, wenn ich sage, dass sich Stress negativ auf die Gesundheit auswirkt. Man kann auch sagen, dass man nicht gewogen werden möchte – das ist für die allermeisten Behandlungen gar nicht notwendig. Es gibt wenige Ausnahmen, zum Beispiel wenn Medikamente anhand des Gewichts dosiert werden müssen oder bei einer Narkose. Die meisten Krankheiten kann eine Ärzt*in behandeln, ohne das Gewicht zu kennen“, erklärt Dr. Antonie Post.
Fakt ist: Die psychische Gesundheit sollte durch einen Arztbesuch nicht gefährdet werden. Um dies zu gewährleisten, ist es notwendig, dass Ärzt*innen sich mit dem Thema Mehrgewicht empathisch auseinandersetzen. Julia Kremer erzählt: „Ich war bei einer Osteopathin und habe im Vorfeld angesprochen, dass ich mehrgewichtig bin. Am Telefon hatten wir dann einen super Austausch. Vor Ort habe ich mich erstklassig behandelt gefühlt. Da habe ich wieder Hoffnung dafür gefasst, auf die Suche nach Ärzt*innen zu gehen.“
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@schoenwild @drantoniepost @ernaehrungs.revolution
Podcast „Iss doch was du willst“ von Dr. Antonie Post auf Spotify Gynformation – queer-feministisches Kollektiv für gynäkologische Selbstbestimmung